EIN GEDICHT ZU TANZEN
von Seda Niğbolu
Menschenkörper, kalligrafische Formen bildend, ohne Berührung zusammengehalten von Quantenkräften, eine extatische Clubszene in Zeitlupe inszenierend… Die 27. Ausgabe von “Tanz im August”, die am 4. September zu Ende ging, war von malerischen Momenten geprägt. Kein Zufall: einer der Schwerpunkte des Festivals unter der Leitung von Virve Sutinen war das Zusammenspiel von Tanz und bildenden Künsten. Passend dazu wurde die erste Retrospektive der Festivalgeschichte der Britin Rosemary Butcher gewidmet, die als “Ikone” des avantgardistischen “New Dance” die Verhältnisse zwischen Raum, Bewegung und visuellen Künsten seit den 70er Jahren erforscht und zum ersten Mal Gast des Festivals war.
Mit den präsentativen Möglichkeiten des Raumes wurde bei Tanz im August viel experimentiert. Wie unterschiedlich Bewegungen mit Hilfe visueller Mittel wahrgenommen werden können, wurde durch jedes Stück neu manifestiert. In Butcher’s SCAN war die Tanzbühne ein Boxring aggressiven Aufstiegs und Fallens. deufert&plischke haben das HAU1 in einen 24-stündigen Lebensaum für “ein neues episches Thater” verwandelt. Mit der “Sammlung Haubrok” drehte sich dann die Präsentation – hier wurde die Kunst auf der Tanzbühne ausgestellt. Im Haus der Berliner Festspiele war die rekonsturierte Fassung von Lucinda Childs‘ “Available Light” zu sehen, die in Zusammenarbeit mit dem Architekten Frank O. Gehry das Aussagevermögen des Geometrisch-Formalen darstellte.
Videoprojektionen verfielfachten die Deutungs- und Rezeptionsmöglichkeiten. Vor allem bei dem letzten Stück der immer provokanten Marie Chouinard, “Soft virtuosity, still humid, on the edge”. Die verhinderten, verlangsamerten, strebenden Schritte der Tänzer gewannen mittels von auf Gesichtausdrücke projizierten Aufnahmen aus verschiedenen Winkeln eine absurd-dramatische Dimension. Neben visuellen Künsten war auch Musik bei dem ganzen Festival sehr präsent und der zeitgenössischen Idee von Provokation entsprechend oft noisig bis störerisch. Beim “Bronze by Gold” von Mouvoir, der Kompanie der Choreographin Stephanie Thiersch, wurden die Musiker endlich zu Tänzern und die Tänzer griffen in die Musik ein.
Der ausschlaggebende Moment der Faszination kam wieder von Chouinard, die vor 10 Jahren mit “bODY_rEMIx/gOLDBERG_vARIATIONS” das Publikum mit der virtuosen Anwendung von Körpererweiterungen in Staunen versetzte. Dieses Jahr war sie zum 25-jährigen Bestehen ihrer Kompanie mit zwei Stücken zu Gast des Festivals. Ihre Tänzer haben ein Gedicht, “Mouvements” des Surrealisten Henri Michaux getanzt, Seite für Seite, Zeichnung für Zeichnung. Michaux‘ von chinesischer Kalligrafie beeinflusste Zeichnungen ahmten die Natur nach. Die Tänzer wurden mit jedem Versuch, sich dieser Schriftkunst anzunähern naturverbundener und animalischer. Ein zunehmend unmöglich scheinender Versuch, der in einen Moment des Wahnsinns mündete.
Streben nach etwas, das (noch) nicht da ist, hat die spannendsten Momente des Festivals hervorgebracht. Bei “Quantum”, das während der Künstlerresidenz von Cie Gilles Jobin im Forschungzentum für Kernphysik CERN entstand, wollten Körper den Ursprung ihrer physikalische Existenz, ihre Materie entdecken. Die koreanische Performerin Geumhyung Jeong hat bei “7ways” die warme Hülle der Menschlichkeit mit plastischen Masken ausgetauscht und mit Maschinen und Objekten sexuell interagieren lassen. Ihre Performanz war Teil eines anderes Schwerpunkts des Festivals, nämlich die zeitgenössische Tanzszene in Asien, die u.a. mit Eisa Jocson’s Darstellung unterschiedlicher Geschlechterrollen und Tao Dance Theater’s ritualhaftigen linearen Formationen narrativ und ästhetisch vertreten wurde.
Statt in kürzester Zeit viel zu zeigen, hat das Festival dieses Jahr seine Zeitspanne auf 3 Wochen ausgeweitet und vor allem den heimischen Zuschauern die Möglichkeit gegeben, sich mit dem vielfältigen Input in Ruhe auseinanderzusetzen. Nicht die Stücke, auch das erweiterte Rahmenprogramm ließ das Publikum spüren, was für unterschiedliche Definitionen zeitgenössische Tanz haben kann. Dank seiner restlos unkonventionellen Haltung ist es dem Festival sogar bei den seltenen schwächeren Momenten gelungen, das Publikum nachdenklich nach Hause zu schicken. Den Abschied übernahm Constanza Macras‘ DorkyPark, die als von einer Frau geleiteten Berliner Kompanie viele Interessen des Festivals zusammenbringt. Den Asien-Fokus des Festivals ergänzend arbeitet sie für ihr neues Stück “The Ghosts” mit chinesischen Akrobaten, die als Jugendliche ihrem Land zu Ruhm und Anerkennung verhelfen, ab Mitte 20 aber brutal dem Vergessen anheim gegeben werden. Tanz im August ist vorbei. “The Ghosts” ist noch heute und morgen (07./08.09) in der Schaubühne am Lehniner Platz zu sehen.
Dies ist die ungekürzte und unredigierte Fassung des Textes, der in junge Welt erschienen ist. Für die Print-Version: http://www.jungewelt.de/2015/09-07/014.php